Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
liebe Freunde,
Dank einer Mandantin, die sich gegen das sie in verschiedenster Hinsicht plagende/sekkierende AMS geradezu heldenhaft wehrt, konnte nunmehr eine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof
• wegen der insbesondere enteignungsrechtlich bedenklich niedrigen Nettoersatzrate von 55 % (der drittniedrigsten im OECD Raum) im Bezug auf das Aktiveinkommen und die demgegenüber noch niedriger sei Notstandshilfe; argumentiert wird, dass diese niedrige Nettoersatzrate und die noch niedrigere Notstandshilfe nach armutswissenschaftlichen Forschungen in Österreich großflächig in die Armutsfalle führen.
• die diversen Befristungen der coronabedingten nur vorübergehenden Anhebung der Notstandshilfe auf das Arbeitslosengeld bekämpft werden,
• eingebracht werden.
Die Argumentation in Kürze:
• Der Umgang mit dem Arbeitslosengeld als versicherungsrechtlichem Anspruch, der offenbar im Sozialministerium (und allen verschiedenen Ministern) von der dortigen Beamtenschaft, obwohl seit Gaygusuz gegen Österreich so klargestellt, ist ein beispielloser: Die Fragestellungen sind ganz einfach und banal: Was würden Sie dazu sagen, wenn in einem laufenden Privatversicherungsvertrag die Versicherungsgesellschaft anordnen würde, dass Leistungen zum Beispiel in einer Rechtsschutzversicherung, Feuerversicherung, KFZ-Haftpflichtversicherung (die Beispiele lassen sich beliebig fortsetzen) einseitig ganz einfach reduziert werden?
Beschwerde gegen die Initiative des Arbeitsministers Arbeitslosengeld und Notstandshilfe zu kürzen
• Diese Beschwerde ist somit auch gegen die angedachte „Reform“ der Arbeitslosenversicherung des neoliberalen Ministers zur Kürzung von Arbeitslosengeld und Notstandshilfe gerichtet. Wie mir zu Ohren gekommen ist, tut der Arbeitsminister zwar so, als ob auch die Seite der Arbeitslosen hören würde. Wie mir vermittelt wurde, kann allerdings von einem Zuhören geschweige denn einem Eingehen keine Rede sein. Dieser Minister reitet, nachdem mittlerweile Studien bekannt sind, dass die Kürzung von Arbeitslosengeld nicht geeignet ist, beschäftigungslose „zu motivieren“ in eine Aktivbeschäftigung zu kommen, immer noch die alte vorurteilsbehaftete „Denke“ weiter: „Wer arbeiten will, kann auch arbeiten.“
Wird sich der Verfassungsgerichtshof weiter ignorant gegenüber Arbeitslosen und deren willkürliche Behandlung verhalten?
Mal sehen, ob sich der Verfassungsgerichtshof neben der nunmehrigen offenbaren Hauptbeschäftigung mit gegen den Gesundheitsschutz nach Art. 3 EMRK gerichteten Beschwerden einer Szene bis hin zu den rechtsradikalen Coronaleugnern, die offenbar zumindest bei einem Richter ein offenes Ohr vorfinden, herab lässt, sich mit der Armutsthematik zu beschäftigen oder sich weiter – wie seit Jahrzehnten – ignorant verhält.
In der Verfassungsgerichtshofbeschwerde ist zur Untermauerung der in ihr dargestellten Sachfragen auch die Beiziehung eines Sachverständigen aus der Armutsforschung im verfassungsgerichtlichen Verfahren beantragt. Meinem – bescheidenen Wissen nach – hat der österreichische Verfassungsgerichtshof (im Gegensatz zum deutschen Bundesverfassungsgericht wo das normal ist, eine Sachverständige Expertenmeinung zu hören) ein einziges Mal einen Sachverständigen beigezogen. Dazu eine Quizfrage (vielleicht für die Millionenfrage in der sogenannten Millionen-Show): Welche soziale Gruppe (Tipp von mir: Ob diese sozial ist oder nicht ist damit nicht angesprochen) ist in den Genuss eines Sachverständigenbeweises vor dem Verfassungsgerichtshof gekommen?
Praktischer Tipp für die Umsetzung des Rechtsschutzes für betroffene Arbeitslose, insbesondere Notstandshilfebezieher:
Beantragen Sie zur Mitteilung über den Leistungsanspruch unter Bezugnahme auf dessen Tagesdatum und eventuell zusätzlich den darin abgesprochenen Zeitraum bei ihrem AMS – empfehlenswerterweise schriftlich – die Ausfertigung eines Bescheides, der dann im Wege einer Beschwerde letztlich an den Verfassungsgerichtshof heranzutragen ist. Hinsichtlich der sogenannten Ergreiferprämienproblematik verweise ich auf frühere Aussendungen.
Spezialproblem österreichische Rechtswissenschaft:
Mit der verfassungsrechtlich, EMRK- und EU-Grundrechtecharta-rechtlich unhaltbaren Ergreiferprämienproblematik beschäftigt sich die österreichische Rechtswissenschaft nicht. Einem Rechtswissenschaftler, der die einzigen diesbezüglichen Ansätze erkennen lässt, sich damit auseinandersetzen zu können, dem ich eröffnete, dass die Ergreiferprämie eine temporäre Außerkraftsetzung der EMRK, die Art. 15 EMRK widerspricht, darstellt, fand das immerhin „sehr interessant“. (Dass die österreichischen Verfassungsrechtler von Rang und Namen ganz offensichtlich die EMRK bis maximal Art. 11 lesen, habe ich auch schon früher einmal angeprangert).
Mit freundlichen (kollegialen) Grüßen
Rechtsanwalt